Ferdinand Sutterlüty
Was macht Gewalt attraktiv?
Gewalt kann euphorisch machen, behauptet der Soziologe Ferdinand Sutterlüty. Wie er darauf kommt, was das mit umgekehrten Opfererfahrungen zu tun hat und ob es bei Gewaltverbrechen Stadt-Land-Unterschiede gibt, erläutert er im Interview.
Sie forschen seit Jahrzehnten zum Thema Gewalt. Die alte Frage lautet ja immer: Wie viel ist Veranlagung und wie viel ist erfahrungsbedingt? Ist Gewalt eher etwas das gelernt wird, oder ist sie ein Ur-Instinkt?
Als Soziologe glaube ich, dass die Gene keine große Rolle spielen, wobei die Diskussion heute eher in Richtung Veranlagung und Konditionierung des Gehirns geht. Wenn man die Gehirnaktivität während Gewaltausübung visualisiert, sieht man, dass dieselben Gehirnareale rot blinken wie bei sexuellen Erfahrungen. Aber weder über Genetik noch über Gehirnforschung werden Sie erklären können, warum Gewalt zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation stattfindet. Das ist mein soziologisches Credo: Gewalt findet immer in konkreten Situationen vor dem Hintergrund der Deutungen der Handelnden statt. Aggression ist zwar ein genetisch angelegtes Potential des Menschen, aber es ist eine ziemlich triviale Aussage, dass die menschliche Natur aggressives Verhalten nicht ausschließt. Wann und wo und in welcher Form Gewalt stattfindet, hat mit Deutungen zu tun. Kein Hirnforscher oder Genetiker der Welt wird Ihnen in irgendeiner Form erklären können, wann es zum Beispiel zu ausländerfeindlichen Pogromen kommt.
Sie haben herausgefunden, dass die Ausübung von Gewalt einen euphorisierenden Effekt haben kann.
Gewaltkarrieren beginnen sehr früh. Das hören Soziologinnen und Soziologen ungerne, weil es eine Art Dogma gibt, dem zufolge Gewaltbereitschaft mit der Jugendphase kommt und mit ihr wieder verschwindet. Meine Befragungen von jugendlichen Mehrfachtätern – und das waren wirkliche Härtefälle, die sich geradezu auf die Suche nach Opfern gemacht, auf die kleinste Beleidigung extrem aggressiv reagiert und andere halbtot geschlagen haben – kamen zu dem Ergebnis, dass sie alle in ihren Familien Gewalt erlebt haben. Die von mir untersuchten Jugendlichen haben durchwegs massive Opfererfahrungen gemacht. Wenn sie selber Gewalt ausüben, findet eine Rollenumkehr statt: Sie werden vom Opfer zum Täter. Und das beschreiben sie als eine Art Offenbarung: Sie erfahren einen großen Befreiungsschlag und ein rauschhaftes Coming-out als Täter. Gewalt gibt ihnen die Möglichkeit, sich als machtvoll zu erleben und sich über andere zu erheben. Das hat auf sie eine euphorisierende Wirkung.
Gewalt gibt die Möglichkeit, sich als machtvoll zu erleben und sich über andere zu erheben. Das hat eine euphorisierende Wirkung.
Dazu passt der Spruch: „Only the hurt hurt.“
Ja, genau. Das wird oft als Kreislauf der Gewalt beschrieben. Einer der wichtigsten Punkte meiner Studie besteht in dem Befund, dass Kinder, die geschlagen worden sind, wieder schlagen, wenn sie älter werden. Oft wird das erklärt mit Lerntheorien, also damit, dass Kinder lernen, dass es Erfolge einbringt, wenn man zuschlägt. Ich glaube das kein bisschen, obwohl das eine dominante Theorie ist. Die Kinder sehen ja, dass die Gewalt das ganze familiäre Zusammenleben zerstört, und sie beginnen ihre Eltern mit zunehmendem Alter dafür zu hassen. Warum sollten sie denn glauben, dass Gewalt ein erfolgreiches Handlungsmuster darstellt? Wir brauchen meines Erachtens eine andere Erklärung. Ich spreche von gewaltaffinen Interpretationsregimes: Die Jugendlichen sind durch ihre familiären Gewalterlebnisse so stark geprägt, dass sie diese immer wieder in andere Situationen hineinprojizieren. Sie fühlen sich von anderen sehr schnell angegriffen oder gedemütigt. Gewalt ist dann eine Art Zwangshandlung. Familiäre Gewalterfahrungen führen aber nicht nur zu Gewaltkarrieren in der Jugendphase, es gibt auch innerhalb von Familien eine Übertragung der Gewalt von einer Generation zur anderen.
Aber nicht jedes Kind, das Gewalt erlebt hat, wird zum gewalttätigen Erwachsenen.
Das stimmt. Man muss hier differenzieren: Einmal eine Backpfeife bekommen zu haben ist nicht dasselbe, wie über Jahre gedemütigt worden zu sein. Und dann gibt es da noch die Resilienzforschung, die aufzeigt, warum manchmal auch Kinder gut gedeihen, die unter den miserabelsten Umständen aufwachsen. Nicht jeder, der geschlagen wurde, wird also gewalttätig. Meine Argumentation läuft jedoch umgekehrt: Gewalttätige Jugendliche waren viel häufiger als andere Opfer familiärer Gewalt; bei den von mir in ausführlichen Interviews befragten Jugendlichen, die als Wiederholungstäter in Erscheinung getreten sind, galt das ausnahmslos für alle. Diejenigen, die diesen „Gewaltkarrierepfad“ einschlagen, weisen das Muster auf, dass sie Situationen, die Außenstehenden trivial erscheinen, als extrem kränkend und verletzend wahrnehmen und dann entsprechend gewalttätig reagieren. Es gibt auch eine Studie von James Gilligan, in der er die Motive von Mördern in US-Gefängnissen untersucht hat – und das große Thema bei ihnen ist Scham. Sie wurden beschämt und wenn man sich ansieht, wie sie zu Mördern geworden sind, dann stößt man auf Situationen, in denen diese Scham-Erfahrung wieder hochgekommen ist.
Apropos Resilienz: Gibt es Faktoren, die begünstigen, dass jemand nicht gewalttätig wird?
Ja, zum Beispiel sind Kinder, die unter schlimmen Bedingungen aufgewachsen sind, aber eine besondere Begabung haben, die sie ausleben konnten, nicht so gefährdet wie andere. Einen großen Unterschied macht es auch, wenn es dritte Bezugspersonen gibt, zu denen eine vertrauensvolle Beziehung besteht; das relativiert die Erfahrungen der Opfer. Ich hatte da zwei interessante Vergleichsfälle – zwei Frauen im Alter von ca. 16 Jahren, die im türkisch-arabischen Gangmilieu in Berlin unterwegs gewesen sind. Beide haben zuhause durch die Brüder und Väter Gewalt erfahren, beide wurden geschlagen und haben demütigende Dinge erlebt. Im einen Fall war die ganze Familie mit dem patriarchalischen Gewaltregime d’accord. Und im anderen Fall hat sich die Familie gegen den Vater und dessen Gewalttätigkeit gestellt. Das macht einen Riesenunterschied. Kinder, die Gewalt erleben, empfinden immer eine extreme Ohnmacht. Die Aussagen in meinen Interviews lauteten immer ähnlich: „Ich war ja noch klein und konnte nichts machen, ich konnte mich nicht wehren.“ Wenn dann aber andere da sind, die sich vor das Kind stellen, das Unrecht als solches benennen; wenn also jemand die Funktion eines Anwalts oder einer Anwältin übernimmt, dann sind diese Ohnmachtserfahrungen lange nicht so tiefgreifend. Auch die beschriebenen Deutungsmuster, die bei anderen immer negative Absichten vermuten, prägen sich dann nicht so stark aus. Ich möchte noch einen Punkt ergänzen: Ich habe den härtesten Mädchen und Jungs gegenübergesessen, und bei allen habe ich einen Leidensdruck gesehen. An diesem Leidensdruck kann die pädagogische Arbeit sicher ansetzen. Auch wenn Gewalt kurzfristig euphorische Gefühlt bringt, darf man sich die Täterinnen und Täter also nicht als glückliche Menschen vorstellen.
Gibt es bei Gewaltverbrechen Stadt-Land-Unterschiede?
Dazu gibt es interessante Forschungen aus Amerika: School Shootings finden nie in Großstädten statt. Noch nie gab es einen Amoklauf an einer Schule in New York, Chicago oder Philadelphia. Die passieren immer nur in Kleinstädten und ländlichen Gegenden, was auf den ersten Blick paradox erscheinen könnte. Katherine Newman, eine amerikanische Soziologin, hat das so begründet: Die Nachbarn in diesen kleinen Ortschaften merken, dass mit einem gewissen Jungen etwas nicht in Ordnung ist. Aber kein Mensch sagt etwas, gerade weil man sich so gut kennt, sich jeden Tag trifft und sich nicht noch näher treten möchte. Die soziale Kontrolle versagt also gerade weil sie so eng ist. Deswegen dauert es so extrem lange, bis jemand interveniert. Das ist in Großstädten anders. Die häufigste Gewaltform aber, die familiäre Gewalt, scheint unabhängig von Stadt und Land zu sein.
Die Nachbarn in kleinen Ortschaften merken, dass mit einem gewissen Jungen etwas nicht in Ordnung ist. Aber kein Mensch sagt etwas, gerade weil man sich so gut kennt.
Nimmt die Gewalt zu oder ab?
Wenn die Zahl der Gewalttaten tatsächlich jedes Mal gestiegen wäre, wenn es behauptet wurde, könnte man das Haus nicht mehr verlassen, ohne sofort Opfer von Gewalt zu werden. Im Jahr 2017 sind die Raten für Gewaltdelikte in Deutschland und Österreich sogar gesunken. Was interessant ist: In amerikanischen Großstädten gibt es extreme Schwankungen, wenn eine neue Droge auf den Markt kommt. Dann gibt es einen Kampf um die Marktanteile und die Gewalt- und Mordraten steigen exorbitant an. Sobald die Territorien aufgeteilt sind, gehen sie wieder zurück. Gewalt kommt und geht in Wellen und Schüben. Es gibt nicht den linearen Anstieg oder den linearen Rückgang. Es ist ein Auf und Ab zu beobachten, aber dass es einen kontinuierlichen Anstieg gäbe, ist schlichtweg falsch.
Text: Martha Miklin // Friendship.is
Fotos: Jana Sabo // Friendship.is